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Machtverschiebung im Kaukasus

Machtverschiebung im Kaukasus

Das internationale Interesse an Bergkarabach brach mit dem Waffenstillstand abrupt ab, doch der Konflikt in der Region schwelt weiter.

Günstige Gelegenheit

Schon bald nach dem Ende der Sowjetunion waren Spannungen und auch kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den neu entstandenen Staaten Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach ausgebrochen. In der UdSSR waren beide Volksgruppen Bürger desselben Staates gewesen. Nun, nach dem Entstehen neuer Staaten, entwickelten sich an der Frage der Staatszugehörigkeit besonders dort Konflikte, wo die Siedlungsgebiete sich auf unterschiedliche Volksgruppen verteilten, so auch in Bergkarabach.

Völkerrechtlich war es als Bestandteil Aserbaidschans anerkannt. Wegen des hohen Anteils an armenisch-stämmiger Bevölkerung und kultureller Wurzeln in diesem Gebiet hatte Armenien seinen Anspruch aber niemals aufgegeben. Arzach, wie Bergkarabach unter den Armeniern bezeichnet wird, hatte sich widerrechtlich als unabhängigen Staat ausgerufen, war aber nicht einmal von Armenien selbst anerkannt worden.

Zuletzt war es 2020 in dieser Gebietsfrage zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Armenien und Aserbaidschan gekommen, die durch russische Vermittlung beigelegt werden konnten (1). Russische Friedenstruppen sicherten den Waffenstillstand. Ob die neuen Spannungen, die Ende 2022 auftraten, mit dem Besuch der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Sommer desselben Jahres in Aserbaidschan zusammenhängen, kann nicht eindeutig belegt werden.

Der politische Westen, besonders die Europäer, waren bei ihrer fiebrigen Suche nach Ersatz für russische Energieträger auch in Aserbaidschan vorstellig geworden, das bis dahin wegen seiner Menschenrechtslage und der wenig demokratischen Verhältnisse immer in westlicher Kritik gestanden hatte.

Nun aber war davon keine Rede mehr, stattdessen sprach von der Leyen von einem „zuverlässigen Gaslieferanten“ (2).

Es ist unwahrscheinlich, dass Frau von der Leyen als Gegenleistung für Gas dem aserischen Präsidenten Ilham Alijew freie Hand gegeben haben dürfte, die Bergkarabach-Frage nun nach seinen Vorstellungen zu regeln. Es gibt auch keine Hinweise, dass sie ihn dazu ermutigt hat. Aber Aserbaidschan sah in der Not des Westens eine günstige Gelegenheit, die eigenen Interessen in Bezug auf Bergkarabach nun durchzusetzen.

Nachdem Russland lange für Frieden hatte sorgen können, nahmen gegen Ende 2022 die Spannungen in der Region wieder zu. Ob diese gezielt herbeigeführt wurden oder die ungelösten Konflikte wieder anfingen aufzubrechen, kann nicht eindeutig gesagt werden. Aserbaidschan sah sich in seinem Vorgehen durch die Schwäche des Westens und das Völkerrecht abgesichert.

Fettnäpfe

Die geopolitischen Entwicklungen spielten dem aserischen Präsidenten Alijew in die Hände. Angesichts der Abhängigkeit des Westens von seinem Gas war nicht damit zu rechnen, dass die EU wegen Armenien einen größeren Konflikt mit einem neu gewonnenen „zuverlässigen Gaslieferanten“ riskieren würde. Trotz aller Werteorientierung war ihr das wirtschaftliche Hemd immer noch näher als der moralische Rock.

Zudem war da auch noch der NATO-Partner Türkei, dessen enge Beziehungen und Gefühle zu Aserbaidschan als ethnisch und religiös verbundenem Staat man nicht aus dem Blick verlieren durfte. Erst jüngst hatte der türkische Staatschef klargestellt, in welchem Verhältnis er zum Westen und zu Russland steht: „In dem Maße, in dem der Westen zuverlässig ist, ist auch Russland zuverlässig. (…) In den letzten 50 Jahren haben wir an der Türschwelle der EU gewartet, und zum jetzigen Zeitpunkt vertraue ich Russland genauso sehr wie dem Westen“ (3). Vorsicht war also geboten, damit nicht durch zu offensichtliche Parteinahme zugunsten Armeniens Erdogan noch mehr in die Arme Russlands getrieben würde.

Am 19. September dieses Jahres entschloss sich Aserbaidschan zu „Antiterroreinsätzen gegen armenische Kräfte. Man wolle die verfassungsmäßige Ordnung“ (4) sichern, verkündete das Verteidigungsministerium in Baku. Getrieben vom westlichen Wertedenken forderte EU-Ratspräsident Charles Michel, „Aserbaidschan müsse die Waffen schweigen lassen, um einen echten Dialog mit den Armeniern dort zu ermöglichen“ (5).

Was Michel sich dabei gedacht hat, weiß nur er selbst. Aber man fragt sich, ob die obersten Vertreter der EU mittlerweile bereits so verblendet sind, dass sie nicht einmal merken, dass sie sich mit solchen Forderungen vor der Weltöffentlichkeit lächerlich machen? Fällt ihnen die Widersprüchlichkeit in ihrem politischen Denken und Handeln schon gar nicht mehr auf? Denn Michel forderte von den Aseri im Konflikt mit den Armeniern ein politisches Verhalten, das besonders die EU-Staaten im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland aufs Schärfste ablehnen: Waffenruhe und Verhandlungen.

Merkt er auch nicht, dass Aserbaidschan nicht zuletzt durch die westlichen Gaskäufe in die Lage versetzt worden war, die eigene Armee so aufzurüsten und zu modernisieren, dass sie der armenischen weit überlegen war? Der Westen hatte also auch den Krieg gegen Armenien mitfinanziert.

Anderseits wirft man aber westlichen Unternehmen vor, die weiterhin in Russland wirtschaftlich tätig sind, mit ihren Steuermitteln den russischen Staat und dessen Krieg in der Ukraine mitzufinanzieren. Gegen diese Firmen wird ein Kesseltreiben vonseiten der Meinungsmacher entfesselt, obwohl sie nichts anderes machen als die Meinungsmacher selbst.

Nimmt man nicht mehr wahr, wie doppelbödig die eigene Moral ist, oder interessiert es die führenden europäischen Politiker nicht mehr, wie die Weltöffentlichkeit darüber denkt?

Sind sie mittlerweile der Wirklichkeit schon so weit entrückt, dass ihnen gar nicht mehr auffällt, wie weit sie sich von den eigenen Wertmaßstäben entfernt haben?

Verraten …

All diese Umstände spielten Aserbaidschan in die Hände, um nach langen Jahren des glimmenden Konflikts seine völkerrechtlich verbrieften Rechte in Bergkarabach einzulösen. Das Verhalten von Aserbaidschan, Russland und der Türkei in diesem Konflikt ist bei aller Kritik aufgrund ihrer Interessenlage schlüssig und nachvollziehbar. Selbst von den Europäern konnte nicht erwartet werden, dass sie Bergkarabach zuliebe im Winter frieren und der eigenen Wirtschaft Sterbehilfe durch Gasmangel leisten. Sie alle verfolgten ihre Interessen.

Unverständlich dagegen ist aber das Verhalten Armeniens, das sich bisher als Schutzmacht von Arzach (armenisch für Bergkarabach) dargestellt und verhalten hatte. Bereits im August 2019, kurz nach der sogenannten „samtenen Revolution“ und seiner Wahl zum armenischen Präsidenten, hatte Nikol Paschinjan in Stepanakert vor seinen Anhängern ausgerufen: „Arzach ist Armenien, Punkt! (...)“ Und ließ das Publikum „Vereinigung“ skandieren (6). Als Ende 2020 der aserische Angriff auf Bergkarabach begann, hatte er noch wortradikal gedroht, „Aserbaidschan habe dem gesamten armenischen Volk den Krieg erklärt“ (7).

Von diesen markigen Worten ist nicht viel geblieben. Im aktuellen Konflikt war Paschinjan dann auffallend kleinlaut und distanzierte sich sogar von den Armeniern in Bergkarabach. Er erklärte, mit den aktuellen Vorgängen nichts zu tun zu haben, und „dass es eines der Ziele des Angriffs auf Nagornyj-Karabach war, Armenien in die Kampfhandlungen hineinzuziehen“ (8).

Der Angriff auf Bergkarabach richtete sich also nicht mehr gegen das gesamte armenische Volk, wie er noch zwei Jahre zuvor gedroht hatte. Armenien und Arzach waren nun auf einmal etwas Verschiedenes. Damit war offensichtlich geworden, dass im Konflikt mit Aserbaidschan die nationale Frage ausgedient hatte.

Dieser Wandel kam für die meisten Beobachter überraschend, hatte er doch unterhalb der Wahrnehmung durch die Weltöffentlichkeit stattgefunden. Hinweise auf diesen Gesinnungswandel könnte in einer Einflussnahme besonders vonseiten der EU zu suchen sein, deren diplomatische Aktivitäten ab dem Sommer 2022 in den südlichen Nachbarstaaten Russlands erheblich zugenommen hatten. Die EU mit ihrem hohen Bedarf an Rohstoffen, ihren großen Märkten und reichen Gesellschaften hat solchen Staaten, die sich aus der Armut herausarbeiten wollen, viel zu bieten.

… und verkauft

Russland war als Lieferant für Rohstoffe und Energieträger vom politischen Westen ausgeschlossen worden. Aber die Sanktionen hatten nicht zum gewünschten Erfolg geführt. Mit Kasachstan und Aserbaidschan hatten die Europäer nicht nur Ersatz für russische Lieferungen gefunden. Als vorteilhaft kam hinzu, dass man zusätzlich Russland vor der eigenen Haustür Konkurrenz machen konnte. Mit ihrer Einflussnahme bot sich der EU auch die Aussicht, an Russlands Südgrenze eine zusätzliche Bedrohung aufzubauen. Kasachstan und Aserbaidschan waren nicht nur wirtschaftlich, sondern auch strategisch von Nutzen.

Dagegen hatten Georgien und Armenien wirtschaftlich wenig zu bieten. Aber auch sie konnten strategisch von Nutzen sein. Stößt westliche Einflussnahme in Georgien auf Widerstand und hat bereits zu erheblich Spannungen in der Gesellschaft geführt, so scheint es in Armenien reibungsloser zu laufen und die Abkehr von Russland weiter vorangeschritten zu sein. „In Brüssel wurde mit Wohlwollen registriert, wie sich Jerewan zunehmend von Russland löst“ (9).

Wie weit diese Abwendung sich schon entwickelt hatte, machte Armenien mit einem Paukenschlag deutlich. Am 10. Januar 2023 meldete die Tagesschau (10), dass ein mit Russland geplantes Manöver von der armenischen Seite abgesagt worden sei, das erst kurz zuvor angekündigt worden war. Am 6. September 2023 meldete dann dieselbe Quelle (11), dass Militärübungen zusammen mit den USA auf armenischem Boden stattfinden sollen.

Die Spannungen zwischen Russland und Armenien nehmen zu – was den politischen Interessen des Westens entgegenkommt. Russland scheint bei seinen südlichen Nachbarn an Einfluss zu verlieren, und der des Westens scheint zuzunehmen.

Dabei setzt besonders die EU auf ihre Wirtschaftsmacht und damit verbundene Vergünstigungen. Auf diesem Feld wird Russland wenig entgegensetzen können.

Ähnlich wie in der Ukraine, wo er schon jetzt an seine Grenzen stößt, dürfte der Westen trotzdem kein Interesse an einer direkten militärischen Auseinandersetzung mit Russland haben. Da schickt man lieber andere Staaten zum Sterben vor und liefert selbst nur militärische Unterstützung. Das ist in der Ukraine einfacher, da es sich nur um einen einzigen Staat handelt mit inzwischen ausgeprägter Feindschaft zum großen Nachbarn.

An der Südgrenze Russlands hat man es mit mehreren Staaten zu tun, die wie im Falle von Armenien und Aserbaidschan auch untereinander Konflikte haben. Da besteht auch für die EU die Gefahr, in solche Konflikte hineingezogen zu werden, wenn es nicht gelingt, Konflikte wie den um Bergkarabach im Vorfeld beizulegen.

Vielleicht ist die Zurückhaltung Armeniens und der Verrat an den Landsleuten in Arzach der Preis, den man von Armenien verlangt für das Entgegenkommen des Westens und Vergünstigungen der Europäischen Union. Wenn auch die Sympathien des Westens immer aufseiten der Armenier lagen, so haben diese doch nicht das zu bieten, was Aserbaidschan hat: Öl und Gas. Aber als Druckmittel gegen Russland taugen sie allemal.


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://ruedigerraulsblog.wordpress.com/2020/11/11/die-kaukasische-zwickmuhle/
(2) Tagesschau 9.8.2022: Gas aus Aserbaidschan - Eine unverbindliche Wunschliste
(3) ZDF 19.9.2023: Erdogan: Vertrauen zu Kreml und Westen gleich
(4) Spiegel vom 19.9.2023: Aserbaidschan startet Militäreinsatz in Bergkarabach
(5) Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 21.9.2023: Niedergeschlagene Europäer
(6) FAZ vom 21.9.2023: Sie haben schon kapituliert.
(7) ebenda
(8) FAZ vom 21.9.2023: Niedergeschlagene Europäer
(9) ebenda
(10) Tagesschau vom 10.1.2023: Armenien sagt Manöver mit Russland ab
(11) Tagesschau vom 6.9.2023: Armenien kündigt Militärübungen mit den USA an


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